10:00 Uhr in der Früh an einem kalten Dezembermorgen. Die Sonne zaubert Lichtspiele in die Avenue Aristide Briand, einer langen Strasse im Zentrum der elsässischen Stadt Mulhouse. Vom leeren Marktplatz blicken wir auf die blauen Lettern des Café Spitz. Das Gebäude ist heruntergekommen, die gelben Fensterläden im Obergeschoss fallen auseinander. Ein Mann in zerfetzten, schwarzen Kleidern kauert in einem Hauseingang. Er bittet um Almosen. Menschen unterschiedlichster Herkunft treffen hier aufeinander. Das Café und die dazugehörende Bäckerei sind geschlossen. Durch die Fenster spähend erkennen wir Vitrinen, Tische, Stühle und Malereien, die Stilleben von Esssituationen zeigen. Der ehemalige Bäcker Pierre Dumel, der hier bis vor sechs Monaten noch gearbeitet hat, öffnet die Türe des Seiteneingangs. Leicht melancholisch betreten wir das Gebäude. Die Stromversorgung funktioniert nicht mehr. Ein dunkler Flur führt in den «Salon du Thé». Die gesamte Einrichtung ist leicht verstaubt. Es riecht unangenehm, beissend, nach Verwesung.
Herr Dumel, Sie waren hier 20 Jahre Bäcker…
Genau ich bin in diesem Haus geboren. Mit 20 Jahren bin ich nach Strasbourg gegangen, um etwas zu studieren, das nichts Bäckerei zu tun hat: Politikwissenschaften. 1994 bin ich nach Mulhouse zurückgekehrt, um das «Le Spitz» zu übernehmen.
Wieso eigentlich der Name «Le Spitz»
Das ist der Name meiner Grosseltern.
Seit sechs Monaten ist das «Spitz» zu. Wie kam es dazu, dass so ein traditionsreiches Unternehmen, eine Institution im Zentrum von Mulhouse schliessen musste?
Im Quartier hat sich viel verändert, viele Leute leben hier am Rand der Existenz. Die wohlstandsbringende Textilindustrie stand in der Krise und hat die Produktion verlagert.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch in Mulhouse. Es kamen immer mehr Menschen aus anderen Ländern und mit anderen Hintergründen in unser Quartier. Stellen sie sich vor! Die Avenue Ariste Briand war früher die florierende Geschäftsstrasse von Mulhouse. Heute haben viele Mulhouser/innen eine konfuse Angst sich hier zu bewegen.
Das heisst französisches Bäckerhandwerk war hier nicht mehr gefragt?
Leider nicht mehr. Mittlerweile gibt es in jedem Supermarkt günstige Backwaren zu kaufen für einen Bruchteil des Preises. Auch in allen umliegenden Dörfern gibt es heute einen Supermarkt. Früher kauften die Leute ihr Brot auf ihrem Heimweg ins Dorf im «Spitz», dass günstig an der Verkehrsachse liegt. Zudem konnte ich nicht mehr 70 Stunden die Woche körperliche Arbeit leisten. Es wurde zu anstrengend und einen Nachfolger habe ich jahrelang nicht gefunden.
Der Bäcker führt uns in die Produktionsräume im hinteren Teil eines hohen Raums mit gewölbter Decke. Die Maschinen stehen still, alles wirkt seltsam verlassen. Zu guten Zeiten verdienten hier ungefähr 25 Personen ihr Brot. Das Sortiment an Leckereien war riesig, reichte von Quiches über Eclairs zu Croissants und Baguettes. Gutes Brot, lernen wir von Pierre Dumel, besteht lediglich aus vier Zutaten: Wasser, Mehl, Salz & Hefe. Frisches Brot – wie gut das duftet, kann man sich hier nur schwer vorstellen. Es riecht modrig. Trotz der Eiseskälte blüht Pierre Dumel förmlich auf beim Erklären der Produktionsschritte.
Wie sah ihr Arbeitsalltag als Bäcker aus?
Es ging um vier Uhr in der Früh los. Zuerst wurden die verschiedenen Brote vorbereitet und gebacken, damit bei Ladenöffnung das frische Brot gekauft werden konnte. Um sieben Uhr kamen die Pâtissiers, um Eclaires und die Tartes zu machen. Eine Stunde später begannen die Traiteurs mit den Quiches, der Pizza und den Tagesplatten. Am Nachmittag wurde weiter Brot gebacken und die Vorbereitungen für den nächsten Tag erledigt.
Das Berufsbild des Bäckers hat sich ja sehr stark verändert…
Ja, früher waren es 30 Personen, die hier gearbeitet haben. Vor der Schliessung waren es noch ungefähr 10. Früher war es viel mehr Handarbeit. Durch die Technisierung ging eine Handwerkstradition verloren. Auch die Bedürfnisse haben sich verändert. Heute will man den ganzen Tag frisches Brot kaufen, früher wurde nur einmal pro Tag gebacken. Auch grosse Kuchen haben an Beliebtheit verloren, weil die Familien immer kleiner werden.
Backen Sie ihr Brot zu Hause immer noch selber?
Ja klar, natürlich in kleineren Mengen.
Was finden Sie das schönste am Backen?
Ich finde Backen hat auch etwas Politisches.
Wie meinen Sie das?
Zum einen sagt man ja nicht umsonst «copain», also der Freund mit dem man das Brot teilt. (lacht) Zum anderen im Sinne einer freundschaftlicher, lokaler und fairen Produktion. Jede Region hat ihre eigene Spezialität und es würde überhaupt keinen Sinn machen in Mulhouse «Appenzeller Biberli» herzustellen und es ist besser, wenn das Mehl direkt von hier kommt. Kennen Sie das Sprichwort «Le meilleur en politique c’est le pâtissier», weil ein Bäcker weiss, wie man die Torte richtig schneidet, die Stücke verteilt und einen kleinen Teil für sich behält.
Über eine verschnörkelte Wendeltreppe gelangen wir in das Obergeschoss des Hauses. Das gesamte Büro ist noch eingerichtet. Farben, Formen und Dekorationen in den Räumen lassen eintauchen in vergangene Zeiten: Quasten, gemusterte Tapeten, blumige Ornamente und Kronleuchter – Inbegriffe französischen Boudoir Stils. Hier lebten drei Generationen der Familie Spitz inklusive Angestellte und Lehrlinge. Wir lauschen Pierre Dumels Anekdoten. Das Café und die Bäckerei «Spitz» waren nicht nur ein Ort, vielmehr eine Familiensaga. Jetzt liegt das Haus in einem tiefen Dornröschenschlaf. Pierre Dummel führt uns ins Esszimmer gleich neben der Küche.
In was für einem Raum sind wir hier?
(Pierre Dumel spielt die Tischordnung nach)
Hier sass Marcel der Grossvater, Madeleine die Grossmutter, Christiane die Mutter, der Vater, die Tante, die Kinder, die Verkäuferinnen, der Bäcker und die Lehrlinge. Wir waren ungefähr 20 Personen am Tisch. Wir hatten eine Köchin und eine Haushälterin.
Das klingt aber nach einer wohlhabenden Familie!
Ja, es war ein stattliches Haus. Wir waren Leute, die Erfolg hatten.
Macht es Sie nicht traurig, wenn Sie diese leeren Räume sehen?
Nein, damit habe ich abgeschlossen. Es war ein langer Prozess und ein schöner Teil meines Lebens. Und jetzt bin ich gespannt, was aus dem «Spitz» wird.
Was wünschen Sie sich für diesen Ort?
Wenn hier etwas Neues entstehen soll, dann mit Künstler/innen, nichts Anderes. Sie werden den Ort zurück erobern. Es gibt keinen Strom. Um Pippi zu machen, müssen sie auf die andere Etage. Sie sind die einzigen, die solche Bedingungen akzeptieren. Zudem reflektieren sie über ihr Leben. Sie reisen viel, sie sind multilingual, sprechen Englisch. Sie können etwas aufbauen, zusammen mit motoco und HyperWerk unser Quartier verändern.