Habit-Hacking: Die Entmachtung der Gewohnheit

HyperWerk erfindet sich gerne neu. Das ist nicht nur der eigenen Neugier, sondern wesentlich dem wachen Blick auf die sich verändernde Welt geschuldet. Jeder studentische Jahrgang kommt mit 25 unterschiedlichen Erfahrungen, Welt- oder Raumsichten und den aufregenden Wünschen nach Gestaltung von Neuem. Unsere erste Aufgabe als Lehrende ist es, unsere Arbeit mit dieser Dynamik zu verflechten und den Glauben aufrechtzuerhalten, dass wir das Rad neu erfinden können.
Erfahrung und Erkenntnis sind dabei vermittelbare Grössen. Gewohnheit ist der Beelzebub der Gestaltung, den wir alle täglich austreiben lernen müssen. Gewohnheit zu reflektieren und sie zu entmachten ist die ungeheuer anstrengende und gleichzeitig belebende Basis unseres Schaffens.

Ein kleiner Exkurs zum besseren Verständnis: Sie hat ja durchaus etwas Beruhigendes, die Gewohnheit. Sie erleichtert nahezu stündlich den Alltag und bewahrt unsere Synapsen davor durchzubrennen. Den morgendlichen Wecker auszustellen bedarf nur eines gedankenlosen Handschlags, das Bedienen der Kaffeemaschine erfordert kein Nachlesen in der Gebrauchsanweisung, und der Gang zum Mittagstisch wird gerne mit einem ebenso höflichen wie üblichen “Mahlzeit” flankiert. Eigentlich ganz gute Gewohnheiten. Hingegen sind Nasebohren, Spucken oder Messerablecken weitgehend geächtet und als schlechte Gewohnheiten konventionell verortet.

Es gibt aber auch grössere Kaliber an der Gewohnheitsfront: Wenn die Gewohnheit des einen zur Last des anderen wird. Die Gewohnheit, jederzeit nicht zu bitten, sondern zu befehlen; die Gewohnheit zu übertreiben, um Gehalt Bedeutung zu verleihen; die Gewohnheit, Gewalt als Mittel der gesellschaftlichen oder politischen Positionierung einzusetzen; oder die ökonomisch getriebene Gewohnheit, die natürliche Katastrophe bis fünf vor zwölf abzuwarten anstatt frühzeitiger Erkenntnis zu vertrauen.

Die Reflexionsunfähigkeit und damit die Manifestation der Gewohnheiten als undurchdringliches Dickicht nimmt massiv zu: von Sitten, Ritualen und Bräuchen zu Vorlieben und Abneigungen, über persönliche und kollektive Überzeugungen oder Konventionen, bis hin zu stumpfer Gewohnheit als undurchdachter Aktion oder Reaktion. Zur Krankheit werden sie als Marotten, Ticks und Wiederholungszwänge.

Die wissenschaftliche oder edukative Auseinandersetzung mit dem Thema “Gewohnheit” findet sich in unserer Geschichte häufiger. Auffallend in der jüngeren Vergangenheit, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als “die Wichtigkeit von ‚antrainierten‘ Gewohnheiten für die Entwicklung und charakterliche Formung des vergesellschafteten Individuums”.(1) Es ging darum, Tugenden wie Selbstkontrolle, Willenskraft und Disziplin als erlernbare Gewohnheiten zu verstehen und auszuweiten. Diese Art der Gewohnheit kennen wir heute noch – ob wir sie im Ziel als Tugenden bezeichnen oder hier im Weiteren insbesondere als gesellschaftlich-ökonomische Fähigkeiten oder gar Erfolgsgaranten, sei dahingestellt.

Mag es auf der einen Seite schön verlässlich sein, auf diese Erfahrungen zu vertrauen, so können sie sich bereits nach einem kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit als Gewohnheit souverän in unserem Verhalten breitgemacht haben. Unser freier, geistreicher Gestaltungswille, unsere kreative Grenzenlosigkeit begrenzt sich unbewusst durch Gewohnheiten, die den Zaun stündlich dichter um uns ziehen. Gewohnheiten sind unbewusst gewordene Handlungsprogramme auf dem Weg zum Exit:

Gewohnheiten verhindern: Sie sind Bremsklötze der Inno­vation.
“Das haben wir noch nie so gemacht!”

Gewohnheiten irritieren: Sie sind Fehlerquellen in Entwicklungen.
“Das kann so nicht funktionieren!”

Gewohnheiten täuschen: Sie verheissen Rettung durch Nebenwege.
“Prozessoptimierung macht uns wieder marktfähiger!”

Gewohnheiten vernebeln: Sie wiegen uns in fataler Sicherheit.
“Vertrauen Sie auf meine Erfahrung!”

Wer gestalten möchte, muss wach sein – wie ein paar Beispiele aus der Wirtschaftsgeschichte belegen, die sich nach einem vereinfachten Raster aufschlüsseln lassen. Gesellschaftlich-wirtschaftlicher Wandel lässt Erfahrungen entstehen, die bestenfalls in ein Wissen münden, das zur Teilnahme befähigt. Bleibt in dieser aktiven Phase die Reflexion aus, droht eine Gewohnheit, die zur Gefahr wird – weil wachere Geister die Chance auf erneuten gesellschaftlich-wirtschaftlichen Wandel wittern und provozieren.

Gesellschaftlich-wirtschaftlicher oder auch politischer Wandel ist nicht neu. Wandel wird an Hochschulen rückblickend ebenso gelehrt wie Methoden und wissenschaftliche Erkenntnisse, die den Zugang zum selbständigen Verstehen ermöglichen. Neu ist heute, dass der Wandel durch Digitalisierung nicht nur wesentlich schneller ist – eine Herausforderung, über die noch immer ganze Industrien stolpern –, sondern auch die Grundfesten der Wissensaneignung durch ebendiesen Wandel erschüttert sind: Digitalisierung ist der Nährboden des Informationszeitalters – wir erschaffen wachsende Informationsmärkte – Information ist mit tradierten Mitteln (dem Verstand der Einzelnen) nicht mehr zu bewältigen – wir entwickeln neue digitale Ideen zur Bewältigung der Informationskomplexität.

Ergo: Wir leben im Ideenzeitalter. Noch grösser als geahnt also die Herausforderung, Gewohnheiten zu sehen, sie abzulegen und den Geist für Neues zu öffnen. Die zeitgenössische Bewältigungsstrategie lautet allerorten “Embody creative leaders”!(2) Gewohnheiten sind dort aber nicht das Thema. Thema sind ungezählte Anleitungen zum kreativen Arbeiten sowie Kreativ-Organisations-Prozess-Verfahren (etwa Design Thinking, Disruptive Innovation, Speculative Turn, Critical Design, Scrum, Agile, Service Thinking, Platform Thinking, Visual Mapping, Scribing, Visual Facilitation, UX-Design, Interaction Design, Big Data), die sich teils hervorragend, teils aber auch bedeutungslos auf den neuen Markt stürzen. Wichtig ist: Jeder kann und muss kreativ sein – eine Idee, die wir einer bahnbrechenden Rede J.P. Guilfords(3) von 1950 zu verdanken haben!

Mein Aber lautet: Unbewusst gewordene Handlungsprogramme sind die Bremsen des Hoffnungsträgers Kreativität. Kreativität durch Techniken und (noch wenige) Methoden sind der zeitgenössische und berechtigte Kampf gegen die einschlägigen Symptome.

Wir müssen aber gleichzeitig lernen und lehren, an den Ursachen zu arbeiten, an unseren unreflektierten und so furchtbar unsichtbaren Gewohnheiten. Umso mehr, als wir gerade in einem enormen Mass und durch die Ideen zur Bewältigung der Informationskomplexität erst neue Gewohnheiten erschaffen: Wahrscheinlichkeitsresultate aus Big Data werden zur akzeptierten Wirklichkeit. Die Organisation aus Wissen löst die geistreiche Generierung ab. Kritische Autorenschaft wird zu kritikfreien Autorenlosigkeit. Bedeutung/Haltung/Wissen gehen im Durchschnittswert von Big Data unter.

Diese neu geschaffenen Gewohnheiten sind, neben den altbekannten, die Damoklesschwerter des Ideenzeitalters, denn:
– Information ersetzt nicht das Wissen;
– der Einfall ersetzt nicht die Arbeit (Max Weber (4) );
– Methoden und Techniken ersetzen nicht die Erkenntnis.

Das Potential der ­reflektierten Gewohnheit und ein gerüttelt Mass an Wissen, Erfahrung, sachbezogenem Gestaltungs­willen und kreativer Offenheit könnten so zu neuen Ufern ­führen: Habit-Hacking ist das Denken wider die Gewohnheit. Wir lernen und lehren es. Wir schaffen die Räume und die Möglichkeiten. Wir geben unser Bestes.

Text: Prof.Dr. Sabine Fischer, Dozierende


1     Anne-Julia Zwierlein, Gegen die Macht der Gewohnheit. Bewusste und unbewusste Selbstformung in der Literatur des Viktorianismus. Centre for British Studies (CBS) 2007  http://www.uni-bamberg.de/uni-publikationen/univers-forschung/univers-2007-bamberg-buchstabiert-das-abc-der-menschheit
(25.7.14)
2     Study – Capitalizing on Complexity. Insights from the Global Chief Executive Officer Study. IBM 2013
3     Joy Paul Guilford, (1950)  Creativity, in: American Psychologist, Vol. 5, pp. 444-454. Deutsch in: Mühle, G./Schell, C. (Hg.), Kreativität und Schule. München 1973
4      Max Weber, Vollständige Schriften zu wissenschaftlichen und politischen Berufen. BoD – Books on Demand, 2012. 1970, S. 38.)