Ende März hatten Hotel Regina die Burg Mittlere Wartenberg gestürmt, eingenommen und zu ihrem Herrschaftssitz erklärt. Im Morgengrauen hatten sich, nach langer mühseliger Plackerei den Berg hinauf, sieben mutige Leute angeschlichen, gespäht, erkannt, dass jetzt gerade der günstigste Moment wäre, attackiert und mit Erfolg die Burg eingenommen. Das grosse Tor, das eigens zu diesem Zweck mitgebracht wurde – man braucht schliesslich ein eigenes Schloss –, passte, der Riegel wurde vorgeschoben – zu!
Dem Felix aus Muttenz bot sich ein erstaunliches Bild, als er, nach langwieriger Einlasszeremonie, endlich den kalten Burghof betrat. Zwischen hohen Mauern war da ein grosses grünes Zelt errichtet, drinnen schnarchte es.
Hühner gackerten und scharrten im Kies.
Kies, der in seiner Menge an Treibsand erinnerte, Treibsand, der nicht nur verschlingt, sondern auch zermalmt. – Von den Zinnen hinab wehten Kaffeeduft und der Rauch von angebranntem Brot.
Für das alles hatte Karin, die leicht eingeschüchterte Coiffeuse, aber keine Augen, denn die flimmerten noch von den vielen Fragen, die ihr im Einlassfragebogen entgegengegrinst hatten: Fragen zu Konfession, Hutgrösse und Pensionsalter, aber auch zu Adelstitel, Fröhlichkeit und letztem Stuhlgang – als ob dies irgendwen irgendwas anginge! Ein grimmiges Augenpaar hatte Pablo, dem Camionneur aus Pratteln, durch einen schmalen Sehschlitz mitgeteilt, dass er und die Bankangestellte Petra, seine Ehefrau und Mutter von zwei furiosen Mädchen, die in diesem Moment irgendwo im Burgwald verschwunden waren, mit fünf Bs eingelassen werden. Eingelassen in den düsteren, nach Hühnermist duftenden Burghof, unter den strengen – oder selbstgefälligen? – Blicken des Torwächters. Moos klebte da an den feuchten Wänden, herumliegendes fauliges Holz moderte in einer Ecke.
Bestieg Sebastian, Autofreak und Burgenfan – erst letzte Woche hatten sie das Thema Ritter in der Schule behandelt – nun gwundrig die Treppe in den ersten Stock, so eröffnete sich ihm eine weitere Szenerie: Drei kleine Sitznischen mit Rundbogenfenstern nach Norden und Süden, rosa Vorhänge davor, die leicht in der kühlen Brise wehten und manchmal, von einer Böe erfasst, heftig flatterten. Schlafsäcke und Wolldecken hingen zum Trocknen. Ein Weidenkorb, der soeben weiter hinaufgezogen wurde, darin Seile und eine grüne Flasche. Und auch hier überall Hühner: auf den Steinbänken in den Nischen, auf den Fensterbänken und den Treppenstufen. Zwischen Geländersprossen, auf achtlos hingeworfenem Gepäck und hervorstehenden Mauersteinen. Von Menschen keine Spur, quasi ausgestorben, bis auf den mürrischen Torwächter, dem er den Weg versperrte – es war schliesslich auch noch früher Morgen.
Einen Stock weiter hinauf und Trudi, die pensionierte Sekretärin, stand auf dem Dach. Hier – nein keine Hühner, dafür eine freundliche, verschlafene junge Frau, die ihr mit spitzbübischem Grinsen eine Tasse frischen Kaffee und ein Spiegelei anbot, natürlich aus Burghaltung.
Da fragte man sich zu Recht, was die Omnipräsenz des Federviehs zu bedeuten hatte. Die Frage übergackerte das eigentlich zu Hinterfragende: Weshalb Zelt und Geschnarche? Es war früher Kaltfrühling, gänzlich ungeeignet für einen Campingausflug; das heimische Basel nicht weit. Und was sollte die Tür da unten überhaupt? Bisher war die Burg für jedermann und -frau offen gewesen, rund um die Uhr. Und in der Zeitung hatte davon auch nicht gestanden!
Zurück zu den Hühnern. Denn wie gesagt, das Eigentliche stellte Kevin, der verständnislose Jogger, gar nicht in Frage. Stattdessen genoss er Kaffee und Ei; mit einer Prise schlechten Gewissens wegen des Cholesterins – das ja eigentlich gar kein Problem sein soll. Silvia, Studentin der Inneren Medizin, wurde verwickelt in eine Diskussion über Huhn und Ei, über Ursprüngliches und Nie-da-Gewesenes. Aus einem Zelt – ja: hier oben auf den Zinnen! – kroch ein weiteres menschliches Individuum, streckte sich und bemerkte süffisant, dass der Teufel meist im Detail stecke und ob es denn nicht genug sei, dass die Hühner da seien. Schliesslich seien sie, die neuen Burgbesitzer auch einfach da, so wie er, Mauro, besorgter Vater eines übermütigen Dreijährigen, jetzt auch da sei.
Jeanne, die begeisterte Touristin, begriff selbstverständlich, dass ihr hier ein Bär aufgebunden wurde und dies eine absurde Aktion war, von Künstlern oder Protestlern oder so. Und die Hühner, die waren ja auch alle fake. Nicht echt, nur absurd.
Blöd nur, dass das Spiegelei gut war. Und den Kaffee, den merkte Kim aus Basel noch, als sie auf zittrigen Beinen den Warthügel hinunterwackelte, Richtung Muttenz, von wo aus Tobias, ihr Sohn, in der letzten Nacht ein Licht auf dem Warthügel, also hier oben auf der Burg, gesehen hatte. Mindestens eine Stunde lang hatte es geblinkt, vielleicht eine Morsenachricht einer verirrten Wandergruppe oder das Warnlicht einer neu installierten Funkantenne; wegen der war der Pensionär Otto, nachdem er der Polizei die mysteriösen Sprayereien auf der Burg Mittlere Wartenberg gemeldet hatte, ja überhaupt erst hinaufgewandert. Jetzt hatte Sina, die verwirrte Gymnasiastin, ob der Hühner ganz vergessen, sich danach zu erkundigen.