Im Rahmen des Jahresthemas 2023/24 wurde die Publikation «Dear Earth,» veröffentlicht. Der Beitrag von Cunllugn Veitchá Teié stellt darin das Spannungsfeld zwischen westlichen und indigenen Wissensansprüchen in Frage – ein Ansatz, dessen Dringlichkeit Paul Schweizer, Dozent im BA Prozessgestaltung am HyperWerk, in Hinblick auf das aktuelle Jahresthema «Gathering Knowledges» unterstreicht: Die Auseinandersetzung mit ökologischen und sozialen Fragen unserer Zeit kann und muss Verantwortung übernehmen, die über rein akademische Reflexion hinausgeht.
Im Januar 2024 haben wir das Open House des IXDM unter den Titel «Das Wort für Welt ist Wald» gestellt. Er ist von Ursula K. Le Guins gleichnamigem Roman abgeleitet und das sprachliche Bild bot uns einen Rahmen, für das Mit- und Ineinanderwachsen unterschiedlicher Projekte und zugleich für den Versuch Zusammenleben in Differenz zu pre-enacten. Die darin angespielten Themen beschäftigen mich sowohl im Hyperwerk, wo ich dieses Jahr für die Kuration des Open House zuständig war, als auch in meiner Forschung, in der ich seit 2023 mit der indigenen Xokleng Konglui Gemeinschaft in Südbrasilien arbeite, die um die Anerkennung ihres angestammten Territoriums in der Serra Gaúcha kämpft. Derzeit befindet sich dort die «Floresta Nacional de São Francisco de Paula», ein unter Naturschutz stehendes Waldgebiet.
Die Auseinandersetzung mit westlichen und indigenen Konzepten von Natur, Wald und deren Schutz habe ich zusammen mit Bibiana Harrote Pereira da Silva im Kapitel «Das Wort für Wald ist kute» (Pereira da Silva und Schweizer 2024) in unserer Jahrespublikation «Dear Earth,» verarbeitet. Doch noch ein zweiter Text aus dem Dialog mit der Xokleng Gemeinschaft ist ins Buch eingeflossen: Cunllugn Veitchá Teiés (2024) Brief an die europäischen Hochschulen: «Unser Wissen wird gesät / ag jãkle te katẽg ha vã, ag jãkle ti», dessen Titel sich mit dem 2024/25er Jahresthema «Gathering Knowledges» verbindet. Auch bei diesem Titel lässt sich eine Verbindung zu Ursula K. Le Guin herstellen, nämlich zu ihren Überlegungen zur «Tragetaschentheorie des Erzählens» (Le Guin 2021).
Cunllugn ist cacica – traditionelle Anführerin – der Xokleng Konglui Gemeinschaft. In ihrem Text spricht sie von der Aneignung indigenen Wissens durch weisse – zug in der Sprache der Xokleng – Forscher*innen und sie spricht von dem Kampf indigener Menschen um Zugang zu akademischer Bildung. Wenn wir Forschen als Wissen (zusammen)sammeln im Sinne von «Gathering Knowledges» begreifen, dann sollten wir Cunllungs Text dieses Jahr erneut lesen. Sie erinnert uns nämlich daran, dass es keine «unschuldige» Forschung gibt – nicht einmal in den freien Strukturen des HyperWerks. Oder mit Linda Tuhiwai Smiths (2012, 1) Worten gesprochen: «‘research’, is probably one of the dirtiest words in the indigenous world’s vocabulary.» Moderne akademische Wissensproduktion, so Smith, habe immer auch auf der Aneignung indigenen Wissens beruht, welches durch wissenschaftliche Verfahren zu «relevantem» Wissen «gemacht» werde, während eben diese Verfahren zugleich als Abgrenzungswerkzeug zu dem dann als «unwissenschaftlich» abgewerteten traditionellen Wissen fungieren – Wissenschaft sozusagen als Beutel, in dem indigenes Wissen gesammelt wird, nur um es hervorzuziehen und als «höherwertiges» Wissen und es als Ware oder als Waffe zu gebrauchen. Cunllugn schreibt aus der Erfahrung ihrer Gemeinschaft davon wie zug Forscher*innen sich ihre Beutel mit dem Wissen der Xokleng vollgestopft hätten und fragt nachdrücklich: «Was haben wir davon?»
Sie selbst scheint in ihrem Beutel keine Waren oder Waffen aufzubewahren, denn die Antwort, welche sie grosszügig bereithält, ist nicht Abgrenzung zum Schutz des eigenen Wissens. Vielmehr besticht ihre Forderung durch vermeintliche Einfachheit: «Ihr lernt von unserem Wissen, unsere Kinder müssen auch an euren Hochschulen lernen dürfen.» Sie bestärkt dieses Argument, indem sie daran erinnert, dass Zugang zu Hochschulen eine wesentliche Voraussetzung für Beteiligung marginalisierter Gruppen in unterschiedlichen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, sowie in öffentlichen Diskursen sei. Cunllugn geht es um konkrete wirksame Massnahmen. So betont sie, dass selbst affirmative Aktionen wie Quoten für BIPoC Personen nur dann inklusiv wirken, wenn sie durch entsprechende Stipendien ergänzt werden, die auch die «versteckten Kosten» eines Studiums anerkennen (hooks 2000, 25) , denn «class matters».
Cunllugn gibt uns, die wir an europäischen Hochschulen studieren oder arbeiten, also gleich zwei Hausaufgaben (Kuokkanen 2010) auf, die wir als Zusatz zu unserer viel zitierten dekolonialen Theorie dankbar als Schritt in Richtung einer entsprechenden Praxis annehmen sollten: Einerseits müssen wir uns darin üben, die vielfältigen Ursprünge der von uns gesammelten Zutaten zu hinterfragen: Das bedeutet, ihre indigene, hybride, angeeignete und entfremdete Natur offenzulegen und so letztlich auch eine kapitalistische Wissen(schaft)sökonomie radikal anzugreifen.(1) Sollten wir bei diesem schonungslos ehrlichen Aufräumen des Beutels erkennen, dass unsere vermeintlich im Zentrum Europas köchelnde akademische Suppe nur durch die Fülle an indigener-Wissenswürze so gut schmeckt,(2) so haben wir noch einen Grund mehr, uns mit allen uns zu Verfügung stehenden Mitteln für den effektiven Zugang(3) diverser und auch indigener Studierender zu unseren Hochschulen einzusetzen: nicht nur Studienplätze anbieten, sondern auch die ökonomischen Bedingungen herstellen, die das Wahrnehmen derselben tatsächlich ermöglichen.
Brief als PDF downloaden
Der Brief wurde in der «Dear Earth,» Publikation veröffentlicht (S. 268), welche auf ISSUU eingesehen und als PDF downgeloadet werden kann.
Referenzen(4)
Cunllugn Vaitchá Teié. 2024. Unser Wissen wird gesät / ag jãkle te katẽg ha vã, ag jãkle ti – Ein Brief an europäische Hochschulen. In: Dear Earth, – Beziehungsweisen mit und auf der Erde, hg. von HyperWerk IXDM, 268–285. Basel: FHNW.
hooks, bell. 2000. Where we stand: class matters. New York: Routledge.
Kuokkanen, Rauna. 2010. The Responsibility of the Academy: A Call for Doing Homework. Journal of Curriculum Theorizing 26, Nr. 3 (8. Dezember): 61–74.
Le Guin, Ursula K. 2021. Die Tragetaschentheorie des Erzählens. In: Am Anfang war der Beutel: warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft: Essays, Reden und ein Gedicht, übers. von Matthias Fersterer, 12–21. 2. Auflage. Akt 10. Klein Jasedow: ThinkOya.
Pereira da Silva, Bibiana Harrote und Paul Schweizer. 2024. Das Wort für Wald ist „kute“. In: Dear Earth, – Beziehungsweisen mit und auf der Erde, hg. von HyperWerk IXDM, 212–259. Basel: FHNW.
Smith, Linda Tuhiwai. 2012. Decolonizing methodologies: research and indigenous peoples. New York: Zed Books.
Fussnoten
(1) «…und so letztlich auch eine kapitalistische Wissen(schaft)sökonomie radikal angreifen», bin ich versucht zu schreiben 😉
(2) …sich sogar gut verkauft
(3) …muss heissen, zu Studienplätzen und ökonomische Bedingungen, die das Wahrnehmen derselben ermöglichen.
(4) In diesem Text werden drei indigene Autorinnen zitiert, eine Schwarze Autorin, die sich im Namen «bell hooks» auf die eigene indigene Grossmutter bezieht, sowie drei weisse – zug – Autor*innen, die jeweils mit indigenen Gemeinschaften forschen, oder, im Fall Ursula K. Le Guins schon früh durch die Forschung der eigenen Eltern mit indigenen Gemeinschaften und indigenem Wissen in Kontakt kam. Wie europäisch ist also unser Wissen?